Und sage hinterher keiner «Wenn wir das gewusst hätten.» Am Mittwoch, 16. März 2022 – nicht 1933 – sprach Wladimir Putin in einer im russischen Fernsehen übertragenen Sitzung von «Nationalverrätern», von der «Endlösung» für die freie und unabhängige Ukraine, und von der «Reinigung der Gesellschaft». Und weiter: «Das russische Volk wird immer die echten Patrioten von den Lumpen und Verrätern unterscheiden können und sie einfach ausspucken, wie eine zufällig in den Mund geflogene Fliege, auf den Boden spucken. Ich bin überzeugt, dass eine solche natürliche und nötige Selbstreinigung der Gesellschaft unser Land nur stärkt.»
Das ist das Vokabular aus Hitlers «Mein Kampf», mit dem der Diktator den Holocaust und den deutschen Überfall auf die europäischen Nachbarn ideologisch vorbereitet hat.
Am 17. März 2022 sprach Präsident Selenskyj zum Deustchen Bundestag. Eine seiner zentralen Fragen war: «Wieder wird versucht, in Europa ein Volk zu vernichten. Warum?» Eine mögliche Antwort hat er verbunden mit der Bitte und der Mahnung, der Ukraine zu helfen, «damit sie sich eines Tages nicht schämen müssen, nicht genug getan zu haben.»
Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages ist direkt im Anschluss im wahrsten Sinne des Wortes zur Tagesordnung übergegangen, hat Geburtstagsglückwünsche ausgesprochen und Stiftungsräte benannt. Dann wurde ebenso stillos wie weinerlich über genau diese Tagesordnung des Bundestages und deren Angemessenheit – eigentlich müsste man sagen Unangemessenheit – debattiert. Schließlich diskutiert hat der Bundestag über die uns alle tief bewegende Maskenpflicht. Tja, wenn wir das gewusst hätten, …
Kleiner historischer Nachtrag: Leider hat 1940 erst Churchil wirklich begriffen, dass mit einem Massenmörder Dialog sinnlos ist. Vielleicht – das ist im Rückblick müssig – hätte der 2. Weltkrieg mit seinen fürchterlich verheerenden Folgen verhindert werden können, wenn die damals Verantwortlichen in den benachbarten Demokratien die Worte Hitlers als Grundlage seiner Taten verstanden hätten.
Ich dachte früher Geschichte wiederholt sich nicht. Weil wir aus Geschichte lernen? «Nie wieder», dass war und ist die moralischen Selbstvergewisserung der Deutschen. «Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten, Wir aber besitzen im Luftreich‘ des Traums die Herrschaft unbestritten.» Schrieb Heinrich Heine schon im 19. Jahrhundert.
Mir graut vor dem Tag, an dem diese Träume an der Wirklichkeit zerschellen und die Moral als das entlarvt wird, was Moral immer ist: Das Gegenteil von Haltung.
Dem ist nichts hinzuzufügen – sagt hiermit ein neutraler Schweizer …
„Die Schutzmacht unserer Verfassung, die Würde, unantastbar, war den Experten fürs Antastbare, Leben und Gesundheit, nicht als die mächtige Göttin in Erinnerung, die sie nach dem von Deutschland angefachten Weltenbrand hätte werden sollen.“
Zitat von Prof. Dr. Gertrud Höhler aus „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, Heyne 11/2020, S. 47
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