«Digitalisierung» und «Transformationsprozess» sind die Zauberworte, mit denen uns die Propheten einer neuen Zukunft locken. Während sie sich klammheimlich die Hände reiben, weil die gegenwärtige Pandemie auf diese Veränderung wie ein Brandbeschleuniger wirkt. «Digitaler Euro», «kontaktloses Bezahlen», «in-house delivery», «digitale Krankenakte» – die schöne neue Welt hat viele Namen. Und wir datteln alle weiter selbstvergessen auf unseren Handys, ohne zu bemerken, wie sich Bürgerrechte auflösen und unsere Identitäten in der virtuellen Welt gegen uns verwendet werden.
In der vergangenen Woche hat sich in Finnland allerdings eine digitale Katastrophe ereignet, die es seltsamerweise noch nicht flächendeckend in die Schlagzeilen geschafft hat. Ein Hacker hat die Krankenakten von rund vierzigtausende Patienten eines großen Psychotherapiezentrums in seinen Besitz gebracht. Inklusive der so genannten «Personenkennzeichen».
Diese Kennzeichen kann man sich als digitale Identitätskarte vorstellen, mit der Versandware bestellt werden, mit der man eine Reise organisieren, aber auch eine Firma gründen oder Sofortkredite beantragen kann. Jetzt veröffentlicht der Hacker seit 21. Oktober 2020 scheibchenweise die Akten. Nackt – Politiker, Polizisten, Prominente, aber auch ganz normale Bürger stehen entblößt im Netz: ihre Ängste, ihre Affären, ihre Krankheiten, ihre Geheimnisse, ihre intimsten Absonderlichkeiten. Natürlich immer nur kurz einsehbar nach dem nächsten upload, welchen aber dann ganz viele Trittbrettfahrer wieder für ihren download nutzen. So entwickelt das digitale Gift mit unendlichem Erpressungspotential seine maximale Wirkung. Staat, Institutionen, Sicherheitsverantwortliche stehen machtlos – und leider auch überrascht und staunend – vis-a-vis. Obwohl das Ganze eine Katastrophe mit Ansage ist. Oder ein Blick in den Abgrund der Zukunft, wenn wir nicht endlich unsere Rolle als User verlassen und unsere Rechte als Bürger einfordern.
«Warum seid ihr so empfänglich für unseren Bullshit? Warum». Das sagte Jaron Lanier einst in einem Interview der FAZ. Jaron Lanier ist nicht irgendwer. Er gilt als einer der Vordenker der «virtuellen Realität», war Teil der Freak-Community im Kalifornien der frühen Achtziger, lehrt heute an der Columbia University und erhielt 2014 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Mit dem «Bullshit» meint er die wohltönenden, aber leeren Versprechungen der Rattenfänger, ob sie Mark Zuckerberg, Jeff Bezos oder Jens Spahn heißen. Und er meint die Asymmetrie unserer Geschäftsbeziehungen zu allen, die unsere Daten und das Wissen über und zu unseren Identitäten nutzen. Aber es sind UNSERE Daten, es ist UNSERE EIGENE, UNVERWECHSELBARE IDENTITÄT, und es sind UNSERE Bürgerrechte. Holen wir sie uns zurück. Oder noch besser, geben wir sie gar nicht her.
Justus, Du bringst es mal wieder auf den Punkt. Ich stehe fassungslos vor dem Irrsinn, der sich vor unseren Augen abspielt. In den KZ’s hat man den Menschen Nummern eintätowiert, in Schweden lassen sich Leute bereits Chips unter die Haut Pflanzen, um damit Türen zu öffnen, zu bezahlen, usw.. Wo Menschen keinen Ankerpunkt in Gott haben, scheinen sie für allen Missbrauch bereit zu sein. Intimste Geheimnisse millionenfach ins Netz gekotzt, da lobe ich mir die (analoge) Beichte und das unhackbare Beichtgeheimnis.