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«Nai hämmer gsait!»

Vorneweg – ich gehöre zur Risikogruppe, denn ich kann mich noch an den Widerstand gegen die Volkszählung erinnern, ebenso ans «Nai hämmer gseit“ in Wyhl. Deshalb bin ich ein Opfer oder Gewinner meiner Sozialisation in jener Zeit, und verspüre mehr als Unwohlsein, wenn staatlich sanktioniertes Tracking gefordert, Ausgangssperren verhängt und handstreichartig der verfassungsrechtliche Grundpfeiler dieser Republik, nämlich der Föderalismus, geschleift werden. Aber verrückt wie sich die Zeiten ändern und doch alles gleich bleibt.

Impfung «liefern», statt schließen, verbieten oder (weg-)sperren? Intelligent schützen und Ansteckungswege aufklären, statt Ausflüge zum Mainufer oder Ammersee stoppen? Pandemisches Infektionsrisiko ins Verhältnis setzen zur epidemischen Ausbreitung von häuslicher Gewalt und Missbrauch? Die Langfristfolgen kaum rückzahlbarer Schulden abwägen gegen Chancen zum Aufrechterhalten wirtschaftlicher Betätigung? Und nicht zuletzt – kulturelles Leben ermöglichen statt faktischem Berufsverbot für Künstler? Wer heute kritische Fragen zu den Massnahmen der Regierenden zur Eindämmung der Pandemie stellt, sieht sich durch Teile der Politik und Medien, im Zweifel aber auch im Freundes- und Bekanntenkreis – leider inzwischen reflexartig – der Verurteilung oder auch der Verunglimpfung ausgesetzt: als Corona-Leugner, als Covidiot, als Querdenker (was übrigens in Vor-Pandemiezeiten in jedem mittelmässigen Managment-Training noch als intellektueller Ritterschlag galt), als Verschwörungstheoretiker oder, und das ist dann die ultimative Stigmatisierung, als Rechtsradikaler. Geschenkt – die Szene der Covid-Maßnahmen-Kritiker ist bunt, und auch ohne Zweifel unterwandert von Sektierern, Irren und politischen Brandstiftern, die eine ganz andere Agenda verfolgen. Und ebenso zweifellos versuchen AfD-Eiferer und Rechtsextremisten, die Demonstrationen und den aufkeimenden Widerstand zu kapern, um hier die politische Deutungshoheit zu erlangen.

Vor 45 Jahren: Der Widerstand gegen Wyhl formierte sich. Ein bunter Haufen aus Bauern, Freiburger Bildungsbürgern, Dorf-Bürgermeistern, aber auch linker und trotzkistischer Studentengruppen, naturbeseelter Weltverbesserer, sowie Träumern und Sektierern, die von freier Kinderliebe und einem Staat ohne Macht phantasierten. Sie galten einer Mehrheit im Land als zutiefst verdächtig, manche schwadronierten vom verlängerten Arm der RAF, und, und, und… Ein Teil der Politiker und Medien reagierten – damals auch reflexartig aggressiv – auf berechtigte Kritik und Widerstand gegen die verfassungsrechtlich mehr als zweifelhaften Entscheide einer Landesregierung mit Verunglimpfung: wirtschaftsfeindliche Kapitalismushasser, realitätsferne Spinner, Systemfeinde, Terroristen-Sympathisanten und – auch damals die ultimative Keule – kriminelle Linksradikale.

Was also ist gleich? Die Reaktion der Macht und Mächtigen sowie eines Teils der Medienschaffenden, die ein scheinbar schlüssiges Narrativ platzieren, das den Austausch von Argumenten verhindert, das auf Ausgrenzung baut anstatt auf Respekt und den Dialog auf Augenhöhe. Damals wie heute war das Ziel, die Fragwürdigkeit des eigenen (Regierungs-)Handelns mit Getöse zu vernebeln. Intoleranz im Gewande des Zeitgeists. Kurt Tucholsky hätte heute wie damals eingewendet: «Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat.»

Was ist der Unterschied? Zum Beispiel: Damals hieß ein schwarzer Ministerpräsident Hans Filbinger. Bieder, Star der bürgerlichen Besitzstandswahrer in ganz Deutschland, ein ehemaliger Scharf-Richter der Wehrmacht und notdürftig gewendeter Demokrat. Heute heißt ein grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Bieder, gemütlich, Star der mit ihm bürgerlich gewordenen Besitzstandswahrer in ganz Deutschland, ehemaliges Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland und unbestritten geläuterter Vertreter des demokratischen Parlamentarismus.

Ach, was ich noch sagen wollte: Die Geschichte hat dem bunten Haufen von Wyhl Recht gegeben.

3 Kommentare

  1. Klaus Opitz sagt

    Danke Justus,!
    Beruflich fahre ich drei Mal wöchentlich nach Herten ins Josefshaus, um dort in verschiedenen Abteilungen Medikamente abzuliefern. Ich freue mich jedesmal auf die Begegnungen mit den Bewohnern, denn die erscheinen mir erfrischend normal in einer Gesellschaft, die in eine kollektive Zwangsneurose verfallen ist. Die Herausforderung für mich heißt nicht mehr wie wir aus der Pandemie heraus kommen, sondern: was kann ich tun, um selbst nicht verrückt zu werden.

  2. Dr.h.c.+Herbert+Hüttlin sagt

    Danke, Justus!
    Du hast die Verwirrungen und Irrungen der letzten 40 Jahre gut verständlich zusammengefasst.
    Es war immer bequemer auf der schwarzen, «Rechten Seite» zu stehen, dort wo die Macht war. Ich kann all Deine Ausführungen nachvollziehen und fühle mich z.Zt., obwohl inzwischen geimpft, sehr oft auf der falschen Seite. Es läuft nun so wie es läuft. Einsichten kommen erst später. Vielleicht dann, wenn jene, die momentan um ihren persönlichen Machterhalt streiten, demnächst vermutlich das Problem: Erster oder nur Zweiter zu sein, gar nicht mehr haben werden.
    Dann sind wir der Auseinandersetzung auf Augenhöhe vielleicht schön etwas näher gekommen.

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