«Doch langsam wird es eng für unsere Zukunft. Wir erleben einen Angriff auf den Traum, den wir zu leben wagten. Ob in Israel, in der EU oder in der Ukraine. Despoten und Terroristen zerstören menschliche Körper. Aber menschliche Träume zerstören die anderen – die gleichgültigen Nachbarn, die unauffälligen Schweiger, die unterkühlten Relativierer und die vielen, die sich zu bequem geworden sind, um sich ernsthaft der neuen Realität zu stellen.… Diese Kombination aus Gewalt und der Nichthaltung zu dieser Gewalt ist die tödliche Mischung unserer Zeit.» Das schrieb Sergey Lagodinsky kürzlich in der FAZ.
Nichthaltung. Das Lebensgefühl (m)eines Landes, das sich gemütlich eingerichtet hat im scheinbar selbstverständlich dauerfriedlichen Wolkenkuckucksheim. Deshalb trauen wir uns nicht, jenen Migranten, die feiern, wenn Babys geköpft und Frauen geschändet werden, klar zu sagen: «Ihr seid nicht willkommen! Wir erwarten von Euch, dass ihr Vorstellungen und Werte einer Gesellschaft teilt, die Voraussetzung dafür sind, dass ihr hier überhaupt leben könnt.» Und wir wiegen bedächtig den Kopf, wenn verkappte Faschisten, die sich seit neuestem als Wahlsieger fühlen, um Verständnis für den angeblich von amerikanischem Imperialismus und «verwestlichter Kultur» bedrohten Diktator in Moskau barmen. Ebenso widersprechen wir nicht laut und deutlich, wenn Verbohrte, die von sich behaupten, sie seien «links», nach Verhandlungen mit einem Regime rufen, das inzwischen Sträflinge und Frauen an die Front zwingt und politische Gegner im Mafia-Stil liquidiert. Wir fühlen uns wohlig religiös und moralisch bestätigt, wenn Papst Franziskus zum Frieden aufruft, der für die Terrorisierten und Malträtierten allenfalls Friedhofsruhe bedeutet. Wir zaudern, zögern und lavieren. Nichthaltung. Weil wir von nichts mehr überzeugt sind, weil uns nichts wertvoll scheint. Aber «nichts» ist relativ. Das ist der Kern des Problems.
Sergey Lagodinsky ist 1975 in Russland geboren, und 1993 als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen. Der Rechtsanwalt und Publizist sitzt im Europäischen Parlament für die deutschen Grünen und ist stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses. Er ist der einzige Jude unter deutschen Parlamentariern auf Bundes- und Europaebene. Nichthaltung konnte und will er sich offenbar nicht leisten. So fordert er im selben Beitrag: «Betroffen sind nicht nur Juden, betroffen ist jeder, der den Traum von Demokratie und Aufklärung zu träumen wagt. Diesem Angriff auf unseren Traum müssen wir uns als Juden stellen. Und auch als Christen und Muslime, als Ungläubige und Unverbesserliche. Als Demokraten jeglicher Herkunft und jeglicher Parteien. Unsere Stunde hat geschlagen, die Stunde der Aufgeklärten, die sich und die Aufklärung nicht ohne Kampf aufgeben.»
Wir stehen erst am Anfang des Sturms, der unseren Traum hinwegfegen möchte. Es wird um alles gehen.