Corona-Pandemie bedeutet auch, dass die Stunde der Experten geschlagen hat. Böse Zungen behaupten auch die Diktatur der Experten. Unabhängig davon ist es offensichtlich – zumindest von einer Mehrheit – akzeptiert, dass wir aus dem Blickwinkel einer bestimmten Wissenschaft auf die Welt fokussieren. Und dann Politik die mehr oder weniger begründeten Ergebnisse deutet und entsprechende Entscheidungen fällt. Im Moment sind Virologen und Epidemiologen hoch im Kurs. Lassen wir uns einmal auf die Perspektive der Ökosystem-Forschung und ihre Erkenntnisse ein.
Vorab seien zwei Dinge betont: Erstens – der Begriff «Öksystem» ist schwierig zu fassen. Das vor allem, weil seine Abgrenzung immer willkürlich scheint. Was damit gemeint ist? Ein Wald zum Beispiel ist ein Ökosystem. Bäume, Büsche, Kräuter, Gräser, Moose, der Boden, die Luft, Kleinstlebewesen, Insekten, Eichhörnchen, Rehe, große und kleine Vögel und vieles mehr bilden dieses Ökosystem. Aber auch der Moosbewuchs eines vermodernden Stammes ist für sich betrachtet ein Öksystem, wie umgekehrt der Wald ein Teil des größeren Ökosystems, sagen wir zum Beispiel, Feldberg im Schwarzwald ist. Und zweitens: Eine Darstellung des Themas ist in der Kürze auch nur ausschnittartig und zugegebenermassen verkürzend möglich.
Aus der Erforschung verschiedenster Ökosysteme wissen wir in jedem Fall, dass das Zusammenspiel zwischen belebter und unbelebter Materie, aber auch zwischen Tier- und Pflanzenwelt eine hoch komplexe, und meistens auch sehr fragile Dynamik hat, die über ein gewisses Gleichgewicht den Erhalt des Systems ermöglicht. Im Zweifel kann dieses Gleichgewicht auch empfindlich gestört oder gar zerstört werden, um durch ein neues Ökosystem abgelöst zu werden. Grundsätzlich geht man jedoch davon aus, dass das System – warum auch immer – eine Dynamik zu Systemerhaltung aufweist.
Weiter wissen wir, auch das mit ziemlicher Sicherheit, weil es viele, viele empirische Befunde aus der Tier- und Pflanzenwelt gibt, dass Populationen (also die Grundgesamtheit von Lebewesen, ob Tiere oder Pflanzen spielt gar kein Rolle) im Verhältnis zu ihrer Umwelt, in einer bestimmten Dichte stabil überleben können. Wird diese (im Sinne des Systems) ideale Dichte aus den unterschiedlichsten Gründen unter- oder überschritten, «reguliert» das System in Richtung des «idealen Gleichgewichts». Mächtige und wichtige Faktoren dieser Regulierung sind Nahrungsangebot und Krankheit. Ein reichliches Nahrungsangebot mit günstigen Umweltbedingungen fördert die Entwicklung einer Population, ein knapper werdendes bremst sie. Verbunden mit zunehmender Dichte ist die Zunahme von Krankheiten, die in der Regel leichteres Spiel bekommen, weil der Gesundheitszustand der dichteren Population – oft (aber nicht nur) auch aufgrund des schlechteren weil knapperen Nahrungsangebots (mit steigender Anzahl von Individuen) – insgesamt schlechter wird. Aber eben auch bei ausreichender Nahrung nimmt die Gesundheit der Population ab einer bestimmten Dichte ab. Ein in Volksmund missbrauchter Begriff dafür ist der so genannte «Dichtestress». In Experimenten mit Ratten konnte gut dargestellt werden, wie die Aggression der Tiere untereinander zunimmt. Aber auch die Tatsache, dass sich Schweine im Schweinestall – eine künstliche, nicht wirklich funktionierende Lebensumgebung – einer Massenhaltung Ohren und Schwänze abfressen, ist auf diese krankhafte psychische Veränderung der Population zurückzuführen. Unabänderliche Folge einer zu hohen Dichte ist, dass sich die Population durch Krankheiten oder Schädlingsbefall dezimiert. Oft zahlenmässig erst einmal bis weit unter das Gleichgewicht des Systems. Dabei spielen Krankheitserreger eine entscheidende Rolle, die wiederum als eigenes Ökosystem die «Wirtstiere» befallen und sich epidemisch ausbreiten, oder Schadinsekten, die Vegetationen vernichten. Anhand der Massenvermehrungen von bestimmten Insekten lassen sich diese Zyklen gut studieren. Die Reduktion der Population führt dann dazu, dass sich das System wieder erholt: Also zum Beispiel wachsen die Pflanzen nach einem Kahlfrass durch bestimmte Insekten wieder nach und ermöglichen auf der Zeitachse auch ihrerseits wieder der Insektenpopulation die wachsende Vermehrung. Damit ist aber auch die zweite Folge einer zu hohen Dichte genannt, sie stört oder zerstört das natürliche Bezugssystem der Population, oder lapidar ausgedrückt, die sich massenvermehrende Population zerstört die Umwelt.
Warum jetzt der wissenschaftliche Exkurs an dieser Stelle? Fokussieren wir auf die Population Mensch, müssen wir ganz nüchtern feststellen, dass sich auch in dieser Population die oben dargestellten Mechanismen zeigen. Die Populationsdynamik hat in den letzten zweihundert Jahren enorm zugenommen. Acht Milliarden Menschen bevölkern immer dichter einen Planeten mit begrenzten Ressourcen. Die Verteilung zwischen Alt und Jung ist global mit unterschiedlicher Ausprägung verschoben. Der Gesundheitszustand ist zwar – auf den ersten Blick – besser als früher. Auf den zweiten Blick ist er – sozial gekoppelt – ungleich verteilt, nämlich in ärmeren Ländern katastrophal, und mit Blick auf die so genannten «Zivilisationskrankheiten» ist er auch in der ersten Welt nur relativ gut. Denn ohne medikamentöse Einstellung wären viele dieser Erkrankungen absolut tödlich. Das heißt die Population hat möglicherweise ihre «ideale Dichte» überschritten, was sich nicht zuletzt auch in der Störung und Zerstörung der natürlichen Umwelt zeigt. Jetzt kommen möglicherweise Krankheitserreger ins Spiel, die sich – siehe oben – epidemisch verbreiten. Covid-19 könnte ein solcher sein. Auch siehe oben – die Population wird reduziert. Dem Gesetz der Normalverteilung folgend trifft die Reduktion überproportional stark und als erstes die Alten, Schwachen, Kranken, sehr Kranken, unterproportional aber auch Junge, Gesunde und Topfitte. Diese jedoch eben zahlenmässig geringer. Sie werden das Überlebensreservoir der Population bilden.
Was könnte aus dieser Perspektive und mit diesem Fokus der wissenschaftlich richtige Ansatz sein? Was wäre rational?
Ich erspare Ihnen die Antwort. Denn spätestens hier wird mich der Vorwurf treffen, die Welt als Zyniker zu interpretieren. Der Zyniker ohne Empathie, ohne ethischen Kompass, ohne – soziale – Verantwortung, usw.. Der Zyniker, der Menschen mit Libellen, Heuschrecken oder Ameisen gleichsetzt. Aber trifft dieser Vorwurf dann nicht auch jene, die zur Zeit die Diskussion und Entscheidungen dominieren? Denn mit dem Blick aus nur einer Perspektive traktieren uns gegenwärtig Epidemiologen, Virologen und Statistiker – sowie jene Politiker, welche die vermeintlich alternativlosen Erkenntnisse exekutieren. In ihrer geschlossenen Welt sind das Ziel, die Ausbreitung des Virus zu verhindern und das Leben möglichst vieler Menschen zu erhalten sowie die damit verbundenen Methoden rational – und vielleicht auch richtig. Aber das ist eben nicht die ganze Wirklichkeit, sondern sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich und weltanschaulich nur ein – kleiner – Ausschnitt.
Die Welt besteht nicht nur aus naturwissenschaftlicher Erkenntnis, und schieres Überleben ist und kann nicht das einzig legitime Ziel gesellschaftlicher und politischer Übereinkunft sein – für die Freiheit, Mitbestimmung und Demokratie, Kultur sowie Zukunft und erfülltes Leben im weitesten Sinne geopfert werden. Warum glauben wir – in der so genannten «westlichen Welt» eigentlich so wenig an unser eigenes demokratisches Modell und starren wie die Karnickel vor der Schlange, paralysiert von der Angst vor der einzigen Lebenssicherheit – nämlich, dass wir sterben müssen – zu den vermeintlich zukunftsweisenden Gesellschaftsmodellen autoritärer Regime?
Möglicherweise weil wir – betrunken von der Hybris vergangener Erfolgsjahrzehnte – von der falschen Grundannahme ausgehen, dass alles «machbar» ist, dass wir die wesentlichen Grundkonstanten unseres Lebens selbst bestimmen können. Da sind wir dann ganz nahe bei den «Allmachtsphantasien» der plötzlich mit verhohlener Bewunderung gepriesenen Despoten in China oder anderswo.
Der wissenschaftliche Blick auf Ökosysteme könnte uns dafür sensibilisieren, dass das eine Illusion ist. Die transzendente Auseinandersetzung mit der Frage nach Leben und Tod sowieso.