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Zwischenzeitlich leben.

«Ich lebe. Zwischenzeitlich. Zwischen vorher. Und nachher.» Die ersten Worte fesselten sie. Lisa sass auf der Terrasse. Die sich langsam öffnenden Blüten des Apfelbaums im Garten waren die Zeugen eines herrlichen Frühlingstages. Was enthielt dieses Manuskript, das ihr der Alte damals, vor Weihnachten, im Café am Ammersee, über den Tisch zugeschoben hatte? Lisa nahm schnell den Rhythmus auf, von dem was hier in diesem Blätterstapel aufgeschrieben war:

Und jetzt sitze ich hier. Warte. Wieder einmal. So wie die meiste Zeit nach vorher. Jetzt also im Terminal eins, am Gate zwanzig. Warte – mit anderen – auf den Ablflug nach Damaskus. Die anderen und ich. Wir sind nicht viele. Genau genommen fünf. Wer mag schon nach Beirut fliegen. In Zeiten wie diesen. Ich taxiere die Mitreisenden. Da ist ein mittelalter Araber. Sehr gepflegt. Vermutlich ein syrischer Geschäftsmann. Er dattelt unaufhörlich auf seinem Mobile. Genauso wie die tief verschleierte Frau, die in der gleichen Sitzgruppe Platz genommen hat. Ganz aussen, direkt neben dem Zugang zum Gate, abseits von uns, sitzt ein Halbstarker. Jogginghose, weisse Sneaker, mit AirPods in den Ohren. Er wippt unaufhörlich mit dem Kopf. Offensichtlich im irren Rhythmus der eingespielten Musik. Dabei hält er tief vornübergebeugt das Mobile vor die Nase, und swipt in rasender Eile durch unendliche Seiten. Oder Chats. Keine Ahnung.

Uns. Das sind ein schlanker, drahtig wirkender junger Mann, der mir gegenübersitzt. Und ich. Er trägt schwarzes T-Shirt, schwarze Outdoorhose, schwarze Zipper-Wolljacke drüber, graue Turnschuhe und eine verspiegelte Sonnenbrille. Neben sich ein kleiner schwarzer, schlank gepackter Daypack. Kurz geschorenes Haar. Vermutlich Soldat oder Polizist einer Spezialeinheit. Ich habe eine Auge für Bullen oder Militärs. Berufskrankheit. Dunkler Teint. Könnte ein Israeli sein. Oder ein Deutscher, oder ein Südeuropäer. Kein Araber. Auch in keinem Fall ist er Amerikaner. Auch da bin ich mir sicher. Die sind in der Regel riesig. Grobschlächtig. Wenn sie in dieser Branche arbeiten. Aber auch für europäische Verhältnisse wirkt er eher schmächtig. Kein Haudrauf. Eher unauffällig. Ich lege mich fest. Israeli oder Deutscher. Schläft er? Oder beobachtet er mich? Tippe auf zweiteres. Wenn er mich beobachtet, stellt er in jedem Fall ziemlich schnell fest, dass ich das Studium meiner Mitreisenden nicht verheimliche. Aber warum sollte ich? Er sieht auch, dass ich Notizen mache. Er sitzt unbeweglich. Und bleibt es, als eine Durchsage kommt, dass sich unser Flug eine weitere Stunde verspätet. Plötzlich schiebt er seine Sonnenbrille ins Haar. «Dienstreise?» Ich bin überrascht. Ich hatte beharrliches Schweigen erwartet. «Hm.» Ich bin nur bedingt aufgelegt für Smalltalk. Der junge Mann beugt sich vor, streckt mir die Hand hin. «Ich bin Joel.» Ich schlage ein. «Franz.» «Hallo Franz.» Er sieht mich erwartungsvoll an. Aber ich möchte ihm eigentlich nicht auf die Nase binden, was das Ziel meiner Reise ist. Ein ironisches Lächeln bahnt sich in seinem Mienenspiel an. Oder bilde ich mir das nur ein? Was reden wir also. Ich habe keine Lust auf Smalltalk. Joel offensichtlich schon. Ich täusche mich. «Du hast Angst.» Kein Smalltalk. Ist das jetzt eine Frage oder Feststellung? Ich zucke unwillkürlich zusammen. Woher weiss er das? Ja, natürlich, gerade hat er die Bestätigung erhalten. Angst. Aber nicht vor dem, was er denkt. Ich fange mich: «Ziemlich steile These.» Er schüttelt den Kopf. «Ich, wir spüren das.» «Wer ist wir?». Er lässt die Frage unbeantwortet und sagt statt dessen: «Wir haben alle Angst.» «Bist Du sicher?» «Absolut sicher.» «Vor was?» «Spannende Frage.» «Vor was hast Du Angst?» «Nicht vor dem Nachher.» Ich sehe ihn offensichtlich überrascht an. Was weiss er von mir? Er lächelt – und scheint Gedanken lesen zu können: «Ich kenne Dich nicht, und weiss nichts von Dir. Aber wir sind alle gleich. Das Nachher ist unausweichlich. Aber wir klammern das aus. Aus unserem Vorher. Oder verschieben es. Auf Nachher. Aber dann ist es zu spät. Weil wir nicht gleichzeitig im Vorher und Nachher sein können.» Ich zögere, warte ab. Er lehnt sich zurück. Lächelt erwartungsvoll. Möchte ich dieses Gespräch wirklich führen. Aber es ist ja kein Smalltalk. Ich frage also: «Du hast gesagt, vor was Du nicht Angst hast. Und trotzdem behauptest Du, wir hätten alle Angst. Vor was also hast Du Angst?» Sein Gesicht wird ernst: «Vor dem Abschied.» Ich beuge mich erschrocken nach vorne: «Dein Einsatz ist so gefährlich?» Jetzt scheint er überrascht: «Was weisst Du von meinem Einsatz.» Ich antworte: «Ich erkenne Euch an der Nasenspitze: Bulle oder Militär. Spezialeinheit. Eine Berufskrankheit.» Er grinst schief: «Dann bist Du, was ich vermutet habe. Journalist. Reporter in Krisengebieten.» Ich übergehe seine Feststellung: «Also. Heisser Einsatz?» «Das spielt keine Rolle. Zeit spielt für meine Angst vor dem Abschied keine Rolle. Für die anderen schon. Weil sie zurückbleiben. Das macht mir Angst.» Ich schweige betroffen. Meine Gedanken kreisen. Vorher? Nachher? Wann ist vorher. Wann nachher? Was war vorher? Was kommt nachher? Vielleicht frage ich ihn nachher danach. Jetzt sage ich: «Wie überwindest Du diese Angst?» «Genauso wie die Angst vor dem nachher.» Ich warte ab. Er fährt fort: «Du weisst ja, wie das läuft. Wir fahren raus. Ein Fahrzeug voraus. Oder zwei. Eins mittendrin. Zwei oder drei hinten. Keiner weiss, welches das in der Mitte ist. Und dann sind unser Augen überall. Die Nerven zum Zerreißen gespannt. Gibt der Alte am Rand ein Zeichen, oder fasst er sich nur an den Kopf, weil ihn die Läuse quälen? Spielt das Kind mit der Puppe, oder wirft es gleich einen Sprengsatz? Lädt der Transporter nur Orangen ab, oder rast er gleich in unseren Konvoi? Wir können würfeln. Top oder hopp. Jedesmal. Vorher greift die Angst mit kalten Fingern nach Dir. Wenn ich im Wagen sitze, hilft nur eins: Loslassen. Es liegt nicht in meiner Hand. Loslassen ermöglicht Mut. Das Gegenteil von Angst. Mut ist Leben. Oder nicht?»

Möchte er wirklich ein Antwort? Ich rette mich in Ironie: «So jung und doch schon so weise?» Er mustert mich. Ja, wie? Traurig? Prüfend? «Nicht weise. Sondern realistisch. Aber schade. Du weichst aus. Ist doch keine so schwere Frage: Bedeutet wirklich leben, nicht mutig sein?» «Warum fragst Du mich das?» «Weil ich Dir ansehe, dass Du Angst hast. Hab‘ ich doch schon erwähnt.» «Findest Du nicht, dass Du zu weit gehst?» «Warum? Das Thema betrifft uns doch alle. Wenn wir über mangelnde Kondition im Fitness-Studio oder Sex reden würden, würde Dich das doch auch nicht stören?» Die Jungen heute scheinen direkter zu sein. Kein Scheu vor Tabus. Das ist ok. Finde ich’s wirklich ok? Eigentlich nicht. Deshalb gebe ich auch keine Antwort. Aber er fragt schon wieder: «Was treibt Dich zur Reise in eine der heissesten Gegenden zur Zeit?» Geht ihn das was an? Soll ich ihm sagen, vielleicht weil ich zwischenzeitlich lebe? Warum soll ich ihm das sagen. Wir kennen uns nicht. Er könnte mein Sohn sein. Ist er aber nicht. Warum bin ich mir da so sicher? Ich schüttle den Kopf. Er zieht eine Visitenkarte aus seiner linken Beintasche. Ich nicke höflich, bedanke mich und betrachte sie neugierig: Joel Fleischmann und eine Mobilnummer. «Kannst mich gerne anrufen. Da unten sind direkte Kontakte manchmal ganz hilfreich.» «Danke.» Ich nestle eine zerknitterte Karte aus meiner Weste, und überreiche sie ihm seinerseits. Er schaut darauf. Zögert kurz, schaut mich prüfend an. Oder überrascht. Aber irgendwie anders überrascht. Dann sagt er: «Aha. Mein Gegenüber ist nicht ganz unbekannt. Danke.» Er streift wieder die Sonnenbrille über. «Ich mache ein Nickerchen. Bis später.»

Der Flieger ist fast leer. Joel Fleischmann fliegt offensichtlich Business Class. So spendabel ist mein Verlag nicht. Keine Ahnung ob wir uns wieder treffen. Aber er hat mich durchschaut. Ich habe Angst. Aber warum? Nach dem vorher hat doch alles verändert. Die Angst sitzt wie ein Stachel. Aber deshalb habe ich doch diesem Job zugesagt, obwohl sich alle wunderten. Oder tuschelten. «Hat wohl nichts mehr zu verlieren.» Die Gleichen, die so harmlos fragen: «Wie geht’s?»

Warum geht mir der junge Mann nicht aus dem Kopf? Ein Fremder, der mir so nahe tritt. Fremd? War er mir das? Wie komme ich darauf, das zu hinterfragen? Vorher war ein lange Zeit. Vieles habe ich vergessen. Oder verdrängt. Aber jetzt ist ja nach vorher. Ach, ich wollte ihn noch nach dem Nachher fragen. …

Natürlich ist diese Geschichte hier nicht zu Ende. Wer wissen möchte wie es weiter geht, kann einfach immer wieder mal in meinen Blog gucken oder auf eine der nächsten Nachrichten warten. Und wer den Einstieg etwas unvermittelt findet, kann den Beginn der Geschichte drei Blog-Einträge (Thanks God, it’s Christmas, Da Schnee kommt zruck…) vorher nachlesen, ebenso wie die erste Fortsetzung im Blog-Eintrag «Kinder und Narren».

Jetzt wünsche ich Euch allen frohe Ostern! Und stellt Euch mal vor was es zurzeit bedeutet, wenn einer aufsteht, und keiner glaubt’s …

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