Mit teilweise sinkenden Inzidenzzahlen sind Ausgangssperren und Pflicht zum Maskentragen, wie sie in einzelnen Bundesländern und Landkreisen bis heute Bestand hatten, einstweilen Geschichte. Die Diskussionen um die Angemessenheit, beziehungsweise um die sachlichen Grundlagen für die Maßnahmen allerdings nicht unbedingt. Der Physiker Dr. Gerhard Scheuch, der als einer der renommiertesten Aerosol-Forscher Europas gilt, bezieht mit einem deutlichen Statement Position: «Im Freien eine Maske zu tragen, ist völliger Unsinn.» Gerhard Scheuch war von 2007 bis 2013 Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin und berät heute die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) sowie viele pharmazeutische Unternehmen und Institutionen.
Im Gespräch präzisiert der Physiker seine Position: «Bei den Coronaviren, mit denen wir es jetzt zu tun haben, braucht man mindestens fünf bis 15 Minuten relativ dichten Zusammenstehens, um sich direkt zu infizieren.» Er verweist an dieser Stelle weiter auf einen wesentlichen Punkt: «Wir wussten das – durch Studien gesichert – eigentlich schon ziemlich früh im Pandemiegeschehen.» So wundere er sich, warum dieses Wissen in die Beurteilungen und Entscheidungen der Politik gegenwärtig keinen Eingang finde, Gerhard Scheuch weiter. «Ausgangssperren, ich sage das bewusst in dieser Deutlichkeit, sind aus dieser Sicht nicht wirklich begründbar und zu rechtfertigen.» Das Argument des grundsätzlichen Ansatzes, Kontakte zu reduzieren, hält er für «mittelalterlich». Gerhard Scheuch: «Dazu brauchen Sie weder virologisches noch physikalisches oder anderes wissenschaftliches Fachwissen. Wo Menschen nicht zusammenkommen, kann nichts übertragen werden. Aber das kann ja nicht die Lösung sein, wenn wir mit Detailwissen bestimmter Fachdisziplinen differenziertere Wege gehen könnten.»
Bernadett Weinzierl, ihres Zeichens Professorin für Aerosol- und Clusterphysik an der Universität Wien (A) unterstützt die Einschätzung ihres Kollegen grundsätzlich, würde aber in der Schlussfolgerung nicht ganz so weit gehen: «Im Freien ist das Infektionsrisiko deutlich reduziert. Es gibt jedoch Situationen, bei denen man sich auch im Freien anstecken kann und wo das Tragen von Masken sinnvoll ist. Aus meiner Sicht in größeren Menschenmengen mit geringen Abständen, wenn man über einen längeren Zeitraum eng zusammensteht, oder wenn man von einer Person direkt angeatmet oder angehustet wird.» Sie sieht sich damit auf einer Linie mit der Gesellschaft für Aerosolforschung, die im Dezember 2020 ein entsprechendes Positionspapier herausgegeben hat. In einem anderen Punkt allerdings ist sie mit Gerhard Scheuch einig: «Die Erkenntnisse der Aerosolforschung sind nicht ausreichend berücksichtigt.» Deshalb liegen für die Wissenschaftlerin die kurz- und mittelfristigen Prioritäten auf diesem Forschungsgebiet in der Vernetzung von Aerosolforschern mit anderen Disziplinen wie z.B. Virologen und Pneumologen. «Das wäre ein wichtiger Schritt zur besseren Bewältigung der Pandemie.»
Diese Forderung unterstreicht Bernadett Weinzierl mit einer Ankündigung: Die Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) organisiert am 17. März 2021 in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), dem Fachverband Allgemeine Lufttechnik im VDMA, der Gesellschaft für Virologie (GfV), der Gesundheitstechnischen Gesellschaft, und der International Society for Aerosols in Medicine (ISAM) ein Online-Symposium zum Thema «Covid-19 und Aerosole». Ziel des Symposiums sei ein Austausch zwischen den Disziplinen zu den Themen «Ansteckungsweg Aerosol» und «Verhinderung von Ansteckung» sowie eine transdisziplinäre Vernetzung.
Zu den Gründen, warum die Erkenntnisse der Aerosol-Forschung bislang nur unzureichende Berücksichtigung erhalten, möchten beide keine Spekulationen anstellen. Das RKI gibt sich auf Nachfrage zugeknöpft: «Wir kommentieren generell keine Äußerungen Einzelner.» Auch das Bundesministerium für Gesundheit bleibt wenig konkret und teilt auf Anfrage schriftlich mit: «Die Bundesregierung steht zur epidemiologischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Infektionsgeschehen sowie zu Fragen betreffend etwa die notwendigen Schutzmaßnahmen und die aktuelle Versorgungssituation im regelmäßigen Austausch mit einer Vielzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.»
Die zwei Wissenschaftler legen sich demgegenüber fest. Bernadett Weinzierl meint: «Zum Verständnis der Rolle von Aerosolpartikeln als Übertragungsweg von SARS-CoV-2 ist die Kenntnis der verschiedenen Aerosolprozesse von Bedeutung.» Gerhard Scheuch sieht das ähnlich: «Für den weiteren Umgang mit der Pandemie und ihrer Bewältigung ist Beantwortung der Frage, wo und wie die Infektionen stattfinden, matchentscheidend.» Gerhard Scheuch berichtet davon, dass er zur Zeit an einem Projekt arbeitet, um ein Messgerät zu entwickeln, mit welchem bestimmt werden kann, wie viele ansteckende Partikel eine Person ausatmet. Eine entscheidende Information im Infektionsgeschehen: «Eine gerade herausgekommene Studie aus Indien erhärtet die schon bislang gewonnenen Erkenntnisse, nämlich dass nur rund bis acht bis zehn Prozent der Infizierten für über 60 Prozent der Ansteckungen verantwortlich sind. Wir können jedoch davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch höher ist, weil wir gar nicht genau wissen, wieviel unerkannt Covid-Kranke wir in der Gesamtbevölkerung haben.» Wenn es möglich wäre, mit einem solchen Messgerät die so genannten «Superspreader» zu identifizieren, hofft der Forscher, könnten Infektionsketten wirksam unterbrochen werden.