Das ist schön: Die Grünen haben deutsche Traditionen für sich entdeckt. Blockwart und Stasi-Spitzel erleben im 21. Jahrhundert ihre Wiedergeburt als politisch korrekte Steuer-Streber. Und da wir Deutschen es gewohnt sind – spätestens seit unseligen Blockwart-Zeiten –, die Dinge gründlich und technisch ausgereift umzusetzen, wird das mit einer digitalen, anonymen Meldeplattform zur Ermittlung von Steuerbetrügern optimiert. Allerdings – kurz und knapp auf den Punkt gebracht: Die Petze war schon in Schulzeiten eine Kanaille. Daran ändern weder Zeitgeist noch vermeintliche Gerechtigkeitsüberlegungen etwas.
Wem diese Verkürzung der Tatsachen zu grobschlächtig ist, sei jetzt Folgendes nachgereicht: «Das Verleumden und Verunglimpfen ist ein Anschwärzen, wenn es um des eigenen Nutzens und Vergnügens willen und aus gehässiger Gesinnung in der Absicht geschieht, gegen jemand bei gewissen Personen Verdacht und Mißtrauen zu erwecken.» So treffend und umfassend beschreibt das Synonymische Handwörterbuch der deutschen Sprache schon 1910, was «verraten», «verpfeifen» oder «petzen» bedeutet.
Dem steht die aktuelle Kultur des «Whistleblowers» entgegen. Wobei die wenigsten wirklich verstehen, was einen Whistleblower auszeichnet. Er riskiert sein soziales und möglicherweise echtes Leben, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken. Dafür stehen exemplarisch die Watergate- oder die NSA-Affäre.
Davon kann allerdings beim Kleinbürger nicht die Rede sein, der jetzt quasi amtlich aufgefordert wird, ohne Risiko und Verantwortung gegen seine Mitmenschen aktiv zu werden. Egal ob er als feig spießiger Angestellter einer Schweizer Bank für Millionenbeträge eine Steuer-CD verkauft, oder als mißgünstiger Nachbar anonyme Meldung macht. Das Motiv ist nämlich nicht Steuergerechtigkeit, sondern im ersten Fall Habgier und im zweiten Missgunst oder Neid, also – siehe oben – «gehässige Gesinnung». Nicht wirklich gute Voraussetzungen für ein «gutes Leben – auf dem Land und in der Stadt».
Offensichtlich alles schon mal dagewesen. Heinrich Mann hat vor über hundert Jahren in seinem Roman «Der Untertan» den deutschen (Un-)Geist beschrieben. Die Liebe zum Autoritären, die Zuneigung zu einer anonymen Maschinerie, die Bewunderungen der scheinbar fürsorgenden Obrigkeit, die dem Menschen zuerst das Denken und dann das Fühlen abnimmt. Diederich Heßling, die Hauptfigur des Romans wird unter anderem so beschrieben: «Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu seinem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst teilhatte, wenn auch nur leidend, sein Stolz war.»
So ist also die gute Nachricht – es gibt noch Luft nach oben: Meldeplattformen für Verstöße gegen korrekte Mülltrennung, gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen, gegen Ernährungs- und Gesundheitsempfehlungen, zu unsolidarischem Verhalten, zu schlechten Trinkgewohnheiten, und so weiter und so fort, …
In diesem Sinne – die Wahlkampfstrategen haben die Gemütslage der Republik verstanden: «Unser Land kann viel, wenn man es lässt.»