Ansichten
Kommentare 2

Die Tempo 20-Gesellschaft.

Kennt Ihr das? Irgendwo auf der Landstraße: Alles ist gut, Ihr kommt zügig vorwärts, der Verkehr fließt mit achtzig, auch mal hundert Stundenkilometern. Und dann plötzlich das «Tempo 70»-Schild. Vorbei ist es mit der flotten Herrlichkeit. Denn der brave Steuerbürger vor Dir fährt jetzt nicht 70 wie es da ausgeschildert ist, sondern zwischen 50 und 60. Warum? Das wird dann zur philosophischen Frage, während Du hinter ihm herzuckelst.


Also wenn Regeln dazu da sind, um eingehalten zu werden, müsste der doch eigentlich in der Siebziger-Zone 70 fahren? Oder in der geschlossenen Ortschaft fünfzig statt vierzig. Oder 30 in der Dreissiger-Zone statt Kriechgang und Schrittgeschwindigkeit. Bin ich böse, weil ich dazu neige, immer zehn Prozent schneller zu fahren als erlaubt? Sind also die Bremser vom Dienst die besseren Regelverletzter als ich? Keine Frage Geschwindigkeitsunterschreitung ist, ähm, «erlaubter» als Geschwindigkeitsüberschreitung. Mit Blick nach Flensburg ist das ohne jede Diskussion so. Aber nochmal: Warum fährt der langsamer? Er hält sich doch – so unterstelle ich mal – an die Regeln, weil er davon ausgeht, dass ein schlauer Mensch bei Papa Staat darüber nachgedacht hat, dass hier ein bestimmtes Tempo angemessen und sinnvoll ist.

Die Gedanken wandern weiter: Was also ist passiert in diesem Land, dass jeder Kriecher sich berufen fühlt, die Straßenverkehrsordnung im Sinne der vom Gesetzgeber implizierten Absicht zu interpretieren und das dann auch so exekutiert? Belohnt mit dem wohligen Gefühl, der folgsamere Mensch zu sein. Bestätigt vom medial verbreiteten Feindbild des Rasers. Ja, warum, warum? Ist der Untertan eine seelische Grundbefindlichkeit hierzulande und der väterlich-kaiserlich, ähm, mütterlich fürsorgende Obrigkeitsstaat die heimliche Sehnsucht nach deutscher Gemütlichkeit? «Mehr Diktatur» wagen, habe ich kürzlich gelesen? Wie? Ernsthaft? Geht’s eigentlich noch? Gab’s da nicht mal Willy Brandt, der den miefigen Siebzigern mit «Mehr Demokratie wagen» den Garaus machen wollte? OK. Das war defnitiv in einem anderen Jahrtausend. Zurück zur Strasse.


Inzwischen schleichen wir durch die Hochburg der Hochanständigkeit: Tempo 30 im ganzen Stadtgebiet. Bedeutet, zu Fuss gehen, ist defnitiv die bessere Option. Da kann man auch klarer denken. Spätestens jetzt begreife ich, was vorgeht in dieser Republik: Sicherheit geht vor Freiheit, Langsamkeit vor Risiko, vermeintlich gerechte Regeln vor Sinn und Verstand. Deshalb sind vielleicht auch erst bescheidene acht Prozent gegen Corona geimpft. Deshalb tragen wir in Fußgängerzonen und auf Marktplätzen Masken, obwohl wir es dank Wissenschaft längst besser wissen müssten. Deshalb gibt es in diesem Land entwickelte und gebaute UV-Luftreiniger und keiner setzt sie ein, und deshalb verharren Land und Gesellschaft in lähmender Angststarre, die an den Fakten gar nichts ändert.

Aber vielleicht ist das ja alles überinterpretiert – und die notorischen Schnäppchenjäger in diesem Land hoffen einfach, dass sie pro Kilometer Geschwindigkeitsunterschreitung einen Eintrag ins Fleißheftchen und am Ende des Jahres eine Gutschrift von Mutti Staat bekommen.

2 Kommentare

  1. Thomas Grieshaber sagt

    Lieber Autor, ich fragte mich schon lange ob ich genau für die beschriebene Vorgehensweise der braven Verkehrsteilnehmer einen Club aufmachen sollte. Bravo für den Mut, mal auszusprechen was bezüglich des mittlerweile durch Willkür gewachsenen 30-iger- Schilderwaldes durchaus berechtigt erscheint. Korrekt und ehrlich zu sein ist sicher des Lobes wert und wir 10%-Schnellerfahrer sind des Tadels und der Knöllchen würdig. Aber wirklich, was sollen wir mit den überkorrekten Bremsern oder auch den Nichtfahrradwegbenutzer, die mitten auf der Strasse und sogar in Doppel- oder Dreierreihe Ihrer willkürlichen Freiheit Ausdruck verleihen wollen. Von einem «Geht es noch» oder anderen Unmutbezeugungen ( A-Wort oder die von Effenberg gesellschaftsfähig gemachte Gestik des Mittelfingers), das uns bei evtl. riskantem Überholmanöver hinterhertönt. Ja, lieber Autor, man kann so etwas sogar noch toppen. Freiburg hat anscheinend dafür ein besonderes Privileg. Wir wechseln 6-22:00 um 22:00-6 von 50 auf 30 oder umgekehrt. Dies ist in Freiburg möglich, an zwei ca. 150m Hauptstrasse parallel verlaufenden Strassen. So wählt man des Morgens seine Hin- und des Abends seine Rückstrecke nach den Tempolimits im Osten Freiburgs aus. Aber das ist natürlich nur eine kleine Variante um die Wachsamkeit des heutigen Autofahres zu schärfen.

  2. Klaus Opitz sagt

    Lieber Justus, danke, Deine Texte spülen den Staub von der miefigen deutschen Anständigkeit. Kürzlich habe ich gelesen, dass sich Heinrich Himmler für anständig hielt. Es ist eben ein Unterschied zwischen Moral und Tugend. Moral hängt das Fähnchen nach dem jeweiligen politischen Wind, Tugend orientiert sich an den Transzendentien, dem Schönen, Wahren und Guten. So dürfte die Tugend im Straßenverkehr lauten, dass sich jeder so zu verhalten hat, dass niemand anderes gefährdet wird, oder eben auch unnötig behindert wird, der gerne so schnell wie erlaubt fahren möchte.
    Welche merkwürdige Moral hinter der Coronapolitik steckt ist mir allerdings schleierhaft. Ich vermisse jedenfalls bei unseren Staats- Muttis, -Tanten und -Grüßonkels die Tugend, der Wahrheit und dem Guten verpflichtet zu sein. Auf das Schöne kann ich in dem Zusammenhang notfalls verzichten.

Schreibe einen Kommentar zu Thomas Grieshaber Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert