Stille. Das Wasser des großen Stroms zog leise glucksend und tief schwarz vorbei. Rechts, stromabwärts blinkten in der Ferne die Positionslampen der Schleusen am Kraftwerk, gegenüber war der Widerschein der Straßenlaternen des kleinen Dorfs zu sehen. Vor ihm dümpelte die Schwimmblase mit seinem Gepäck. Die hatte Paulo im Schutz der Uferweiden schon ins Wasser gelassen, bevor er sich ein paar Stunden aufs Ohr gelegt hatte. Um zu checken ob, sie dicht war. Er war todmüde gewesen. In einem Rutsch Hamburg-Basel mit einem LKW aus Rumänien, der – eigentlich auf dem Weg nach Rom – jetzt erst mal am großen Grenzübergang gestrandet war. Mit ihm allerdings reiste das Glück, er hatte gleich den nächsten Lift rheinaufwärts bekommen. Dann war er zu Fuß an das flache Uferstück gekommen, das an dieser Stelle ein kleine Bucht bildete. Er kannte sich bestens aus. Schließlich war er hier groß geworden. Eltern und Geschwister wussten nichts davon, dass er in der Gegend war. Gut so. Sie würde er auf dem Rückweg besuchen. Wann immer auch das sein würde.
Paulo – das war seit Kindheitstagen die Abkürzung von Paul-Horst, und heute freute sich seine Tessiner Freundin Gianna über den italienisch klingenden Namen – ließ sich ins Wasser gleiten. Scheisskalt. Trotz Neopren. Aber das war der leichteste Weg, unbemerkt in die Schweiz zu kommen. In dieser Zeit, in welcher plötzlich mitten durch Europa wieder bewachte Grenzen verliefen. Mit zwei kräftigen Flossenschlägen hatte Paulo die Strömung erreicht und überquerte jetzt mit der Kraft des Wassers den Strom. Wenige Minuten später glitt er über eine Kiesbank am Schweizer Ufer. Sie hatten schon als kleine Jungs ganz genau berechnet, wo im Fluss sie ins Wasser mussten, um an einer ganz bestimmten Stelle gegenüber anzukommen. Paulo verharrte kurz, lauschte, beobachtete die dunkle Wiese, die sich sanft ansteigend bis zu den Häusern des kleinen Dorfs zog. Es war kurz nach Mitternacht. Nichts. Alles still. Als er seinen schweren Gepäcksack über das Ufer zog, klackerten die feinen Kiesel leise. Wieder verharrte Paulo. Musterte die Häuser am Dorfrand. Wer wusste schon, ob nicht gerade ein schlafloser Pensionär am offenen Fenster frische Luft schnappte und beim Anblick eines schwarzen Froschmanns Alarm schlug. Aber nichts regte sich. Paulo zog die Flossen aus, drückte die Luft aus der Schwimmblase, schulterte den schweren Packsack und erreichte mit wenigen Schritten die schützende Buschgruppe, welche die Wiese ziemlich genau in der Mitte unterteilte. Paulo musste an die Erzählungen seines Opas denken, der früher von den Schweizer Grenzern erzählt hatte, die flüchtende Juden aus dem Wasser des Rheins gefischt hatten, um sie am nächsten Morgen am deutschen Grenzhäuschen ab- und dem sicheren Tod auszuliefern. Dagegen war sein kleines illegales Abenteuer ein Kindergartenstreich. Paulo zog sich um. Glücklicherweise war die Nachtluft schon lau. Im Schutz des Buschstreifens lief er Richtung Dorf. Durch eine kleine Gartentüre betrat er das Grundstück des kleinen Häuschens, das Georgio zurzeit bewohnte. Georgio war der große Bruder von Gianna, arbeitete als Krankenpfleger im nahen Basel und hatte heute Nachtdienst. Wie verabredet lag der Schlüssel unter der kleinen Vogeltränke. Paulo würde jetzt zwei Stunden schlafen und noch vor dem Morgengrauen mit Georgios altem VW-Bus aufbrechen.
«Gianna cara mia. Bin in der schönen und bestens bewachten Schweiz angekommen. Zwinkersmiley. Freu mich auf Dich! Herzsmiley. Muss’ aber vorher noch was erledigen. Zwinkersmiley.» Das war der Teil des Plans seiner Einreise in die Schweiz, den Gianna nicht kannte. Die Antwort kam prompt. «Du springst wieder! Warum? Ist das wichtiger als ich?» Paulo zögerte. «He Gianna keine unfairen Fragen. Natürlich nicht.» Das stimmte so nicht. Aber irgendwie doch. «Wieso unfair? Ich will einfach nur wissen, was wirklich ist.» Das war Gianna. Direkt. Ohne Umschweife. Paulo wusste es, als er tippte – eine dünne, klischeehafte Replik: «Ach Gianna. Nicht schon wieder. Wir hatten das doch schon so oft. Du kommst an erster Stelle! Ich liebe Dich! Herzsmiley.» Direkt, ohne Umschweife. Wenn sie sich jetzt gegenübergestanden hätten, würden ihre Augen in einem tiefen Schwarz geglüht haben: «Vergiss’ den schmalzigen Scheiss. Ich steh’ nicht auf Kitsch. Wir haben uns so lange nicht sehen können. Und jetzt musst Du zuerst noch springen. Das ist eine Sucht. Entscheide Dich. Ach was, spring’ halt. Und wenn sie Dich vom Kindergarten-Vorplatz kratzen, verspreche ich Dir, komme ich nur vielleicht zur Beerdigung. Nacht’. Schlaf’ schlecht. Stinkefinger.» Uups, Gianna war wirklich sauer.
… Wer die ganze Geschichte lesen möchte, darf mir gerne eine E-Mail schreiben und sich vormerken lassen. Zum Jahresbeginn 2021 wird es ein Buch mit Kurzgeschichten und Texten von mir geben.
Hi Justus, ich kenne diese Steilwand gut. Dagi und ich waren einige Winter hintereinander in Mürren im Skiurlaub. Wenn man ganz hinten im
Tal mit der Gondel hochfährt, hat man einen guten Blick auf diese gigantische Steilwand!!
Und ganz ehrlich: Ich hab mir dabei immer wieder gedacht, dass diese Wand sicher eine magische Anziehungskraft für potentielle Suiziddanten hat!
Und nun beschreibst Du tatsächlich genau das!
Und die Gedankengänge des alten Legionärs … muss man ein paar mal lesen, und er hat ja gar nicht so unrecht …