Ansichten
Kommentare 2

Begegnung mit einem Soldaten.

Ende September vor sieben Jahren war ich ein paar Tage in Lemberg. Dort gibt es eine prächtige Dominikanerkirche mit dicken Säulen und Riesenlettern: SOLI DEO GLORIA. Auf dem Platz davor standen ein paar Individuen, die schlecht zu ihr passten: Penner oder Delinquenten, eine dünne Frau mit aufgetriebenem Bauch, die einen kleinen Hund an einer Schnur hielt. Diesen Kontrast – die von der Abendsonne orangefarben beleuchtete wuchtige Fassade, die Verlorenheit der Figuren davor – versuchte ich in einem Foto einzufangen. Auf einmal stand ein Mann vor mir und sagte streng auf Russisch: «Fotografieren Sie hier nicht!»

Ich schloss die Etuiklappe: «Entschuldigung.» Ein zweiter Mann tauchte auf, kleiner als der erste, kleiner als ich, mit geschorenem Haar, hartem, angespanntem Sportkörper, ausgemergeltem Mördergesicht. Er fauchte: «Keine Fotos, kapiert?» – «Habe verstanden.» Er starrte mich misstrauisch an, als erwäge er, mir die Hand abzuschlagen. Der Erste fragte: «Woher sind Sie?» Er roch nach Alkohol, sprach aber klar. «Ach, aus Deutschland? Können Sie sich vorstellen, dass ich einen deutschen Nachnamen habe? Ja, ich heiße Jäger. Mein Großvater war nämlich Deutscher.»

«Wie kam der hierher?»

«Im Krieg. Er war SS-Mann, unter uns gesagt. Aber er verliebte sich in meine siebzehnjährige Oma, und als die Deutschen abrückten, zog er die Uniform aus, heiratete und blieb hier.»

Der Mörder verschwand.

«Das ließ man ihm durchgehen?»

«Natürlich nicht. Man schickte ihn nach Solowki im Weißen Meer. Aber meine Oma reiste ihm nach, sowie sie konnte – mit meinem kleinen Papa auf dem Arm.»

«Eine romantische Geschichte.»

«Eine einzigartige Geschichte! Nein, man hat den Opa nicht mehr hierher gelassen. Er ist dort geblieben. Mein Vater wuchs in Solowki auf. Später wurde er Soldat, so schaffte er es in die Ukraine zurück.»

«Sie leben hier?»

«Ja, das heißt: nein. Nur ein paar Tage Urlaub, ich hänge hier mit den Kumpels ab. Übermorgen geht’s zurück in den Osten.»

Ich hatte vor 35 Jahren in Russland studiert und dachte bei Osten reflexhaft an Sibirien: Omsk. Chabarowsk. «Ach, dort arbeiten Sie? Und wie ist es da?»

«Schrecklich. Grauenhaft.» Er beugte sich zu mir und sagte leise: «Dort tötet man.»

Erst jetzt begriff ich: Ostukraine. Donbass. «Sie sind Soldat?»

«Ja, leider. Und ich will da nicht hin. Aber wenn wir nicht hingehen, kommen die zu uns. Und sie schießen. Wir dürfen nicht schießen, aber sie schießen.»

«Furchtbar.»

«Ja, und das mir. Wissen Sie, was ich eigentlich werden wollte? Ich habe zwei Jahre in Polen studiert. Darauf kommen Sie nie. Raten Sie.»

«Ingenieur?»
«Geistliches Seminar! Wirklich! Sie glauben mir nicht. Ja, katholisch. Ich habe es verlassen, als ich merkte, die Obe­ren in der Kirche lügen. Und zwar alle. Nach zwei Jahren war ich wieder hier – mein Vater konnte es nicht fassen. Dann, meinte er, solle ich halt zur Armee, wie er. Da muss man nicht viel wissen und nur eines beachten: irgendwie durchkommen. Überleben. So hab ich’s gemacht. Ja, Berufssoldat, inzwischen im zwölften Jahr. Ich, mit dem Herzen eines Priesters, im Osten Soldat. Und wissen Sie, was ich dort treibe?« Noch näher, flüsternd: «Aufklärer.» Es folgten einige militärische Wendungen, die ich nicht verstand. Auch wurde er immer wilder. «Wir schleichen uns an deren Stellungen heran und machen uns ein Bild . . . und dann . . . Die Russen zahlen 50 000 für jeden von uns. Neulich hatten wir einen Auftrag . . . dreißig Mann, wir haben . . .» Die Einzelheiten verstand ich nicht, doch ich spürte fast körperlich seine Erregung und sein Entsetzen. «. . . und dass ich hier vor Ihnen stehe, zeigt, dass wir Profis waren.»

Er hatte Tränen in den Augen. «Wozu das Ganze, wenn die EU uns doch nicht will? Die NATO wird uns im Stich lassen, hat uns schon im Stich gelassen. Wir können . . . Ich kann . . . also ich kann . . . ich werde das nicht überleben.»

Wenn er Soldat war, warum die Angst vor Fotos? Kaufte er Drogen für den Dienst? Priesterherz? Er wirkte so aufgewühlt und elend, ich nahm es ihm ab. Wir umarmten und küssten uns. Wir standen vor der Dominikanerkirche in der Abendsonne, und er sagte: «Tut mir leid . . . Einem fremden Menschen kann man seine Seele öffnen . . .»

«Sie haben schöne Augen. Schade, dass ich Sie nicht fotografieren darf.»

«Fotografieren Sie, schnell. Ich heiße Wladimir und bin 34 Jahre alt. Erzählen Sie, dass es mich gab.»

Der Mörder tauchte wieder auf, um seinen Kumpel einzufangen und mir die Kehle durchzuschneiden; ließ aber von uns ab, als er sah, dass wir beide weinten.

Danke liebe Petra Morsbach, dass ich diese Erzählung hier veröffentlichen darf. (Petra Morsbach ist Schriftstellerin. Zuletzt er­schien ihr Essay „Der Elefant im Zimmer – Über Machtmissbrauch und Widerstand“ (Penguin).)

2 Kommentare

  1. …und sowas vor nur wenigen Jahren in Lemberg Dombas,
    unglaublich! … die stetige Angst der dort unter russischen Herrschaft lebenden Menschen.

    Es wäre zu schön, wenn sich das Leben dort bald menschlicher gestalten liesse.
    Das scheint aber noch ein langer Weg zu sein….

Schreibe einen Kommentar zu Andreas Thumm Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert