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Wenn Demokratie nichts oder alles wert ist.

Neulich beim Frühstück, in gemütlicher Runde anlässlich eines Geburtstages zu Gast: Fast hätte ich gesagt, rund und fett, aber sagen wir es doch lieber so – mit zufrieden satten Bäuchen waren wir versammelt. Unversehens wurde das Gespräch politisch. Eigentlich fest entschlossen, die Behaglichkeit des Augenblicks zu geniessen, wollte ich nicht hinhören. Dann die Aussage: «Mit der Glorifizierung der Demokratie sollte es jetzt schon mal ein Ende haben!» Überhören? Weiter am Cappuccino schlürfen, als wäre nichts gewesen? Ich geb’s zu – geht nicht. Auch nicht mit der größten Willensanstrengung, den friedlichen Vormittag weiter friedlich ausklingen zu lassen.


«Glorifizieren? Leben wir nicht ziemlich gut hier, im Moment ganz besonders und sowieso und überhaupt?» Unwillig grummelnde Ablehnung: «Ja, ja (übersetzt wissen wir, was das heisst), aber so toll ist auch nicht alles hier.» Ein Friedensangebot: «Setzen wir voraus, dass es in jedem Fall eine Staatsform braucht. Könnten wir uns auf das ‹geringste Übel› einigen?» Auch diese goldene Brücke wird nicht betreten. «Also wenn ich dann die Reden vom Bundespräsidenten höre, dann nervt mich das Schönreden der Demokratie noch mehr, …» Demokratie bedeutet, die ganz andere Meinung der anderen auszuhalten. Ich rede mir innerlich gut zu. Und starte einen neuen Versuch: «Nochmal anders gefragt: Leben wir in Mitteleuropa nicht mit am besten auf diesem Planeten? Im Ergebnis der Erfolg funktionierender Demokratien?» Eine weitere Stimme meldet sich in der Runde: «Na ja. Ich denke, das werden viele Chinesen für ihr Land auch reklamieren.» Wird wohl so sein. Aber was möchte mir mein Gegenüber sagen? Dass in Diktaturen und Autokratien auch gutes Leben möglich ist? Dass der Wert der Freiheit und die Chancen von Demokratie und Rechtsstaat relativ sind? Dass man sich nach dem Systemwechsel sehnt? Ich fürchte, das unterstellen zu müssen, und entschliesse mich zum Aufbruch. Gottseidank war ich nur Gast, …

Drei Tage später. Das «world press photo» (siehe oben das diesjährige Sieger-Bild) wird gekürt und der Aufstand im Warschauer Ghetto jährt sich zum achtzigsten Mal. Es gibt da einen Zusammenhang: Das verächtlich machen der Demokratie stand am Anfang des Nazi-Regimes und des jüdischen Genozids, ebenso wie die große Relativierung möglich gemacht hat, dass rund 1.500 Kilometer entfernt von unserem reich gedeckten Frühstückstisch schwangere Frauen aus Kliniken gebombt werden. Hätte ich eigentlich gerne meinen Diskussionspartnern wider Willen gesagt. Aber wir saßen da doch so schön rund und fett.

Nachtrag – oder die Fakten zum Bild, (Quelle World Press Photo Foundation): Iryna Kalinina (32), an injured pregnant woman, is carried from a maternity hospital that was damaged during a Russian airstrike in Mariupol, Ukraine. Her baby, named Miron (after the word for ‘peace’) was stillborn, and half an hour later Iryna died as well.

Ukrainian photographer Evgeniy Maloletka was one of the very few photographers documenting events in Mariupol at that time. He said: «We came to Mariupol just one hour before the invasion. For 20 days, we lived with paramedics in the basement of the hospital, and in shelters with ordinary citizens, trying to show the fear Ukrainians were living with.»

5 Kommentare

  1. Claudia Leppert sagt

    Lieber Justus, auch wenn es oft mühsam und schwierig ist.
    Am Ende wird es sich lohnen aufrecht geblieben zu sein.

  2. So ähnlich erging es mir vor ein paar Tagen. Während eines Steh-Empfangs standen mir zwei «gestandene Männer» gegenüber, die mit mir das Gespräch suchten: Weil es durch ein Verkehrschaos zwischen Weil am Rhein und Freiburg zu einer grösseren Verspätung des erwarteten Künstlers gekommen war, meinte einer der beiden, dass heute eigentlich nichts mehr funktioniere. Denn die schlauen Köpfe in Berlin produzierten lauter Schwachsinn. Ganz gleich, ob es sich um die Verkehrspolitik, die Umweltpolitik, die Wirtschaftspolitik oder alles andere handele, so weit das Auge reiche, nur Schwachsinn! «Es wird Zeit, dass endlich mal wieder einer sagt, wo es lang geht!» Ich antwortete: «Ich hoffe sehr, dass dieser Eine, den Sie meinen, nie kommen wird. Einen solchen hatten wir ja schon einmal. Suchen Sie sich einen Gesprächspartner, der Ihren Gedanken folgen kann. Ich kann und will es nicht …»

  3. Birgit Kaelble sagt

    Lieber Justus,
    bitte bleibe aufrecht!
    Aus dem Poesiealbum eines Schulkindes im 2. Welt-Krieg:

    “ Sieh nicht was andre tun,
    der andren sind so viel.
    Du kommst nur in ein Spiel,
    das nimmermehr wird ruhn.

    Geh einfach Gottes- Pfad,
    lass nichts sonst Führer sein,
    so gehst du recht und grad
    und gingst du ganz allein.

    Gewidmet von deinem lieben Vati während des Urlaubs in der Kriegsweihnacht 1944″

    Dieser Vati und das Kind haben anders als die Mutter auf dem Bild überlebt.

    Danke für deine Auf – Richtig – keit!
    Birgit

  4. Klaus Opitz sagt

    Lieber Justus,
    es tut richtig gut zu lesen, was Du aussprichst. In einem Kreis von Freunden hatte ich mich kritisch zur Klimapolitik geäußert. Mir wurde sinngemäß gesagt, dass angesichts des nahen Klima-Weltuntergangs nicht mehr diskutiert werden kõnnte, es muss auch gegen den Willen einer Mehrheit gehandelt werden. Von jungen Leuten wird mir gesagt, dass meine Argumente wohlfeil wären, weil ich ja nicht mehr die Konsequenzen meiner Positionen ausbaden würde. Ich darf also nichts mehr vertreten, was jenseits meiner Lebenszeit liegt. Meine Frau meint, ich sehe zu schwarz, ich wünsche sie hätte Recht.

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